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Wie Feuer und Eis: Warum Gesellschaften zunehmend fragmentieren

Der explosionsartige Anstieg von Sozialkontakten führt unausweichlich zu einer Filterblasen-Gesellschaft und wird laut einer in Wien entwickelten Theorie der sozialen Fragmentierung“ zur Gefahr für die Demokratie und die Bewältigung kü

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Complexity Science Hub

Balanced vs. unbalanced relationships

image: People like to create social triangles with others. Red lines represent friendly and cooperative relations between individuals, blue lines are negative or hostile links. We usually cope better with balanced relationships, i.e. when all three in the triangle get along with each other well (triangle 1), or when one person (i) that is on good terms with one (j) and on bad terms with another (k) observes that j and k dislike each other too (triangle 2). What we dislike is when two friends don't get along (triangle 3). Unbalanced social relationships are much rarer in societies than balanced ones. view more 

Credit: CSH Vienna

[Wien, 18. Nov 2020] Wissenschaftler am Complexity Science Hub Vienna (CSH) zeigen, dass die sich beschleunigende Fragmentierung der Gesellschaft – oft auch als Filter-Bubble-Gesellschaft bezeichnet – eine direkte Folge der wachsenden Zahl an Sozialkontakten ist. Ihrem Modell zufolge können Gesellschaften nur entweder kohärent sein oder fragmentiert. Und so wie Wasser ab einer bestimmten Temperatur zu Eis oder zu Gas wird, wechselt eine Gesellschaft an bestimmten Kipppunkten („Tipping Points“) abrupt vom einen Zustand in den anderen.

Für ihre Theorie sozialer Fragmentierung, die in der neuesten Ausgabe des Journal of the Royal Society Interface erscheint, verwenden die Forscher zwei klassische soziologische Konzepte, die im Lauf der letzten Jahrzehnte in hunderten Studien empirisch geprüft wurden. Die erste These ist die der Homophilie. „Menschen sind glücklicher, wenn sie nicht mit anderen uneinig sind oder streiten müssen“, erklärt der Erstautor der Studie, Tuan Pham (CSH & MedUni Wien). „Man kann auch sagen: Gleich und Gleich gesellt sich gern. Um Stress zu vermeiden, besteht die Tendenz, dass sich Meinungen innerhalb einer Gruppe immer mehr aneinander anpassen und angleichen.“

Das zweite Konzept ist die Balancetheorie des in Österreich geborenen Psychologen Fritz Heider (1946). Vereinfacht gesagt beschreibt sie, dass Menschen darauf bedacht sind, dass sich auch ihre FreundIinnen gut verstehen. „Wir konstruieren gerne soziale Dreiecke“, so Stefan Thurner (CSH-Präsident & MedUni Wien). „Am liebsten ist uns, wenn sich alle drei in dem Dreieck miteinander verstehen. Was wir nicht gut aushalten ist, wenn zwei Menschen, mit denen wir uns gut verstehen, sich nicht mögen oder z.B. miteinander streiten. Solche Zustände der Imbalance kommen in Gesellschaften tatsächlich auch viel seltener vor.“

Phasenübergang: von kohärent zu fragmentiert

Die Komplexitätsforscher kombinieren in ihrem einfachen Gesellschaftsmodell Homophilie und Balancetheorie mit dem physikalischen Prinzip, dass der Zustand der geringsten Energie aufgesucht wird. „Wir legen das auf Gesellschaften um und sagen: Menschen in Gesellschaften suchen den Zustand des geringsten sozialen Stresses auf“, so Thurner. „Und da sehen wir deutlich zwei gesellschaftliche Phasen-Zustände: Entweder, die Gesellschaft ist kohärent – das heißt, es existiert Zusammenhalt, und Austausch und Kooperation können stattfinden. Oder die Gesellschaft zerfällt in lauter kleine Blasen Gleichgesinnter. Die verstehen sich zwar dann untereinander gut, eine konstruktive Kommunikation über die Blasen hinweg ist aber nicht mehr möglich. Die Gesellschaft fragmentiert.“

Zu viele soziale Kontakte führen zum Kipppunkt

Der Übergang, so die Forscher, ist abrupt. Was aber verursacht das Kippen? Beim Phasenübergang von Wasser ist es die Temperatur; bei Gesellschaften ist der Tipping Point laut der hier vorgestellten Theorie die Anzahl der Beziehungen, die Menschen miteinander pflegen. Und die ist dank Internet, Smartphone und Social Media in den letzten Jahren regelrecht explodiert. „Vor ein paar Jahrzehnten mussten wir unsere Telefonleitung noch mit anderen Haushalten teilen. Dann hatte jeder Haushalt eine Leitung, später jede Person ihr eigenes Telefon. Heute sind wir per Smartphone zu jeder Zeit mit Leuten in der ganzen Welt verbunden – und das noch über viele Kanäle gleichzeitig“, erklärt Thurner.

Für das Wohlbefinden der Einzelnen wird das zum Problem. „Mit Unstimmigkeiten in kleinen Gruppen, zum Beispiel Streit mit zwei von zehn Mitgliedern einer Großfamilie, können wir oft noch ganz gut umgehen“, erklärt Tuan Pham. „Aber sind plötzlich 20 von 100 gegen mich, halte ich das nicht aus. Ich werde diesen 20 künftig also aus dem Weg gehen. Stattdessen suche ich meine eigenen sozialen Blasen auf. Besonders einfach ist das in der Online-Welt.“ Tun das viele Menschen gleichzeitig, kommt es zur schlagartigen Fragmentierung, die die Forscher in ihrem Modell beobachten konnten. „Das ist so sicher wie ein Naturgesetz“, sagt Thurner.

Demokratie in Gefahr

Stimmen die soziologischen Grundannahmen, sieht der Komplexitätsforscher ein gewaltiges Problem, das sowohl unsere Demokratien wie auch die Bewältigung von Herausforderungen wie Klimakrise oder Pandemien gefährden könnte. „Wenn sich alle in ihren Bubbles bewegen und nicht mehr bereit sind, diese Komfortzonen zu verlassen, wie sollen wir als Gesellschaft dann noch Themen ausverhandeln und zu Kompromissen gelangen, die die Grundlage aller Demokratie sind?“ Wie real und brandgefährlich die Entwicklung ist, zeigen die letzten beiden US-Wahlen oder das immer raschere Um-sich-Greifen von Verschwörungstheorien.

Was aber tun, um die Demokratie zu retten? „Das wirksamste Mittel wäre, Kontakte wieder dramatisch zu reduzieren – aber das ist vollkommen unrealistisch“, so Thurner. „Wir müssen uns hier wirklich rasch etwas überlegen.“ In einem nächsten Schritt wollen die Forscher ihre Theorie jedenfalls einmal anhand großer Datensätze überprüfen.

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Tuan Minh Pham T, Imre Kondor, Rudolf Hanel, Stefan Thurner, The effect of social balance on social fragmentation. J. R. Soc. Interface (2020) 20200752. http://dx.doi.org/10.1098/rsif.2020.0752


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