Männer laufen ohne Zuschauer langsamer, Frauen schneller: Fehlendes Publikum aufgrund der Coronapandemie hat die Leistung von Sportlerinnen und Sportlern beim Biathlon-Weltcup 2020 offenbar merklich beeinflusst. Das haben Forschende der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (MLU) mit Hilfe von Daten aus der Saison vor und während der Pandemie herausgefunden. Beim Schießen hingegen zeigen Frauen in Anwesenheit von Publikum bessere Leistungen, während Männer sowohl langsamer als auch ungenauer schießen als vor leeren Rängen. Das Ergebnis wurde in der Fachzeitschrift "Psychology of Sport and Exercise" veröffentlicht.
Wenn andere Menschen jemandem bei einer Aufgabe zuschauen, hat das Einfluss auf dessen Leistung: Allein die Anwesenheit von Publikum verbessert die Leistung bei einfachen Aufgaben, die vor allem Kondition erfordern. "Da ist die Studienlage bisher relativ klar, bei komplexeren koordinativen Aufgaben sind die Ergebnisse heterogener", sagt Amelie Heinrich vom Institut für Sportwissenschaft der MLU. Im Allgemeinen werde aber davon ausgegangen, dass sich hier die Leistung durch Publikum eher verschlechtert. Das Phänomen ist unter dem Begriff "Social Facilitation" (soziale Aktivierung) bekannt.
Heinrich, die als sportpsychologische Expertin den deutschen Nachwuchskader im Biathlon betreut, nutzte für ihre Studie die durch das Coronavirus verursachte besondere Situation im Sport. "Die Pandemie bietet die einmalige Möglichkeit, den Einfluss des Publikums außerhalb von experimentellen Bedingungen in der realen Welt zu untersuchen", so Heinrich. Sie verglich die Laufzeiten und Schießerfolge von Biathletinnen und Biathleten aus der Saison 2018/2019 mit ihren Leistungen in der Saison 2020 in den Disziplinen Sprint und Massenstart. "Bei den Männern waren die Ergebnisse wie erwartet: Sie liefen mit Publikum schneller, beim Schießen zeigten sie aber Leistungseinbußen", sagt Heinrich. Während Skilanglauf vor allem Kondition erfordere, sei Schießen eine koordinative Aufgabe. "Bei den Frauen war es interessanterweise genau umgekehrt." Sie liefen in Anwesenheit von Zuschauern langsamer, schossen dafür aber durchschnittlich circa eine Sekunde schneller und zeigten zumindest im Sprint auch etwa fünf Prozent höhere Trefferleistungen. Aus Sicht der Forschenden sind die Ergebnisse nicht allein auf schwankende Leistungen der Athletinnen und Athleten zurückzuführen. Die aktuelle Studie habe mit 83 (Sprint) beziehungsweise 34 (Massenstart) Weltcup-Biathletinnen und -Biathleten eine gute Datengrundlage, zudem habe sich für beide Wettkampfdisziplinen die gleiche Tendenz gezeigt.
"Das ist unseres Wissens das erste Mal, dass eine Studie einen so unterschiedlichen Effekt des Publikums auf Männer und Frauen zeigt", so Prof. Dr. Oliver Stoll, Leiter des Arbeitsbereichs Sportpsychologie an der MLU. Bisherige Studien zu dem Thema seien größtenteils mit Männern durchgeführt worden. "Das Ergebnis stellt zumindest die Generalisierbarkeit der Social-Facilitation-Theorie in Frage und weist auf einen bisher unbekannten Unterschied zwischen Männern und Frauen hin", sagt Heinrich. Dieser müsse in weiteren Studien systematisch auch für andere Sportarten untersucht werden, die ebenfalls sowohl konditionelle als auch koordinative Elemente enthalten.
Über die Ursachen für die möglichen geschlechtsspezifischen Leistungsunterschiede in Reaktion auf Publikum können die Forschenden bisher nur spekulieren. "Möglich ist, dass geschlechtsspezifische Stereotype eine Rolle spielen", sagt Heinrich. Beispielsweise gelten Männer als konditionell stärker - ein Stereotyp, das durch die Anwesenheit von Publikum aktiviert werden könnte. Einige Studien zeigen zudem, dass Frauen sensibler auf Feedback reagieren. Auf jeden Fall zeigt das Ergebnis laut Heinrich einmal mehr, dass das Geschlecht als möglicher Einflussfaktor bei psychologischen Untersuchungen berücksichtigt werden sollte.
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Studie: Heinrich A. et al. Selection bias in social facilitation theory? Audience effects on elite biathletes' performance are gender-specific. Psychology of Sports and Exercise (2021). Doi: 10.1016/j.psychsport.2021.101943
Journal
Psychology of Sport and Exercise