News Release

Einsichten aus der Komplexitätswissenschaft: Mehr Vertrauen in Selbstorganisation setzen

Studie 'Systemic Risk: The Threat to Societal Diversity and Coherence'

Peer-Reviewed Publication

Research Institute for Sustainability (RIFS) – Helmholtz Centre Potsdam

Globalisierung, Digitalisierung, Nachhaltigkeitsstabilisierung – diese weltweiten Mega-Transformationen sorgen für gesellschaftlich umfassende Umwaelzungen. Daraus entspringen neue Stroemungen wie etwa populistische Bewegungen, welche die Sicherheit gefaehrden und demokratische Werte infrage stellen. Welche Regeln und Institutionen koennen bei solch systemischen Risiken stabilisierend wirken? Eine Studie des Instituts für transformative Nachhaltigkeitsforschung (IASS) liefert ueberraschende Antworten.

Die Corona-Pandemie hat erstmals gezeigt, wie ein systemisches Risiko über die globalisierte Welt hereinbricht: Zunaechst ist es ein kaum beachteter lokaler Ausbruch mit ersten Erkrankungen in Wuhan. Einer Lawine gleich verbreitet sich jedoch das Virus im Ursprungsland, zieht weiter in Nachbarlaender und in der Folge schnell über den ganzen Globus. Aufgrund des Einflusses auf das Gesundheitswesen, den weltweiten Waren- und Fernverkehr, die Logistik und viele anhaengende Branchen bringt ein zunaechst lokales Ereignis die gesellschaftlichen Systeme weltweit an ihre Grenzen.

Dies ist charakteristisch für systemische Risiken: Sie sind komplex, vernetzt, zufallsabhaengig, in hohem Maße nichtlinear und koennen zu Kipppunkten fuehren, die komplexe Gesellschaftsgefuege bedrohen.

Wie reagieren Menschen darauf? Ein Großteil der Bevoelkerung vertraut weiterhin auf die Verlaesslichkeit der gesellschaftlichen Institutionen und haelt sich an die Pandemie-Regeln. Es gibt jedoch Bevoelkerungsgruppen, die das Vertrauen in diese Institutionen verloren haben, den offiziellen Verlautbarungen keinen Glauben schenken, hinter allem "finstere Maechte" ausmachen und sich populistischen Bewegungen anschließen – befeuert von sozialen Medien. So kann die oeffentliche Meinung von Teilen der Gesellschaft ploetzlich unerwartet in eine andere Richtung kippen und sich dadurch in zwei Lager spalten. Derartige Veraenderungen, befluegelt durch ein systemisches Risiko wie etwa eine Pandemie, können zu einer Bedrohung der Vielfalt und des Zusammenhalts von offenen Gesellschaften werden.

Komplexitaetsforschung und die großen Transformationen

Für die Studie 'Systemic Risk: The Threat to Societal Diversity and Coherence' haben die beiden Autoren, der Thermodynamiker Klaus Lucas und der Soziologe Ortwin Renn, die Ergebnisse der Komplexitaetsforschung mit konzeptionellen Ueberlegungen über den Umgang mit systemischen Risiken kombiniert. Denn die drei großen Transformationswellen – Globalisierung, Digitalisierung und Nachhaltigkeitsstabilisierung – fuehren zu aehnlich tiefgreifenden Veraenderungen und Verwerfungen wie durch die Corona-Pandemie.

Beispiel: Globalisierung mit Nationalismus begegnen?

Im Fall der Globalisierung kommt es in immer groeßeren Teilen der Gesellschaft zu Gegenbewegungen, die für eine Wiederbelebung nationaler und haeufig ethnisch definierter Politiken mit dem Ausschluss des angeblich Fremden sowie der Einfuehrung protektionistischer Handelspolitik eintreten. Gleichzeitig erfolgt eine Erosion des Vertrauens in gesellschaftliche Institutionen – allen voran in die demokratischen Saeulen Parlamente, politische Parteien und Justiz. Immer oefter finden populistische Bewegungen großen Zuspruch, mit dem Ergebnis einer zunehmenden Polarisierung der Bevoelkerung.

Ein aehnlich destabilisierendes Moment ruft die Digitalisierung hervor: Waehrend ein Teil der Gesellschaft von hohen Komfort- und Effizienzgewinnen profitiert, leidet ein anderer unter Einschraenkungen der persoenlichen Freiheit und Identitaet, moeglicherweise lediglich „gefuehlten“ Einschraenkungen. Dazu kommt die Konzentration von digitaler Wirtschafts- und Gestaltungsmacht auf nur wenige große Akteure, die ihre eigenen Interessen ohne ausreichende demokratische Kontrolle durchsetzen koennen. Waehrend digitalisierte Prozesse demokratische Strukturen einerseits durch erhoehte Transparenz oder den erleichterten Zugang zu politischer Partizipation staerken koennen, stehen Echokammern und Bots wiederum für Entwicklungen, die Polarisierung verstaerken und den für demokratische Willensbildung unerlaesslichen gesellschaftlichen Diskurs behindern.

Die dritte Welle der Transformation ist die der „"Nachhaltigkeitsstabilisierung", so nennen es die Autoren und verstehen darunter den Prozess, nachhaltige Prinzipien und Entwicklungen in die Bereiche Politik, Wirtschaft und gesellschaftliches Verhalten einzubringen, was zu aehnlichen Bruechen, Widerspruechen und damit verbundenen Risiken fuehre. Vor allem kann diese Stabilisierung Konflikte mit den beiden anderen großen Transformationen herbeifuehren.

Die hier angerissenen Transformationsprozesse setzten laut Renn und Lucas gesellschaftliche Prozesse in Gang, die eine Anpassung an neue Lebensbedingungen nach sich ziehe und somit als systemische Risiken zu klassifizieren seien. Der juengste Erfolg politischer Parteien, die es vor fuenf Jahren noch nicht gegeben habe, sowie der Niedergang etablierter Parteien in vielen europaeischen Ländern wie in Griechenland, Frankreich und Italien seien ein Beleg dafuer.

Der Ausweg aus diesem Dilemma

Die Studienautoren argumentieren, dass Merkmale, die komplexe Strukturen in vielen Bereichen von Natur, Technik und Gesellschaft charakterisieren und beeinflussen, sich aus grundlegenden Mustern ableiten lassen, die bereits in dynamischen Modellen in der Physik und der Chemie nachgewiesen wurden. Sie haben die Erkenntnisse aus der Komplexitaetsforschung auf die Struktur sozialer Risiken angewendet und kommen so zu den bekannten sozialen Steuerungsmechanismen Hierarchie, Konkurrenz und Kooperation. Doch hinzu kommt als neuer Mechanismus das Prinzip der Selbstorganisation. "Ihre Wirkung wird in fast allen Theorien der Sozialwissenschaften unterschaetzt", sagt Prof. Ortwin Renn, Direktor am IASS.

Auf das aktuelle Thema Migration und Integration angewandt, bedeutet diese Erkenntnis, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt nicht allein durch Regeln, Wettbewerb oder Wertegemeinschaft bewirkt wird, sondern dass unter bestimmten Voraussetzungen neue Elemente durch Selbstorganisation zur grundlegenden Funktionalität des Systems beitragen koennen, also etwa zur wirtschaftlichen Entfaltung oder zu kulturellen Leistungen. Das setzt aber voraus, dass neu eintretende Personen alle Kooperationsmoeglichkeiten erhalten, die sie zur Entwicklung und Entfaltung ihrer Potenziale benoetigen. Denn die Komplexitaetswissenschaft zeige, dass kreative Loesungen und ungewoehnliche Anpassungsprozesse oft aus den Elementen entstuenden, die sich neu in eine bestehende Struktur einfinden und mit ihren kreativen Anpassungsprozessen innovative Leistungen fürs System erbringen.

Gleichzeitig sollten die Regeln des Wettbewerbs und der Hierarchie als Leitplanken des ansonsten breiten Entwicklungskorridors zur Geltung kommen, sofern die aus Selbstorganisation entstandenen Kooperationen im Sinne der Stabilitaet des Systems nicht weiterfuehren oder kontraproduktiv werden. Dies impliziert, dass Kooperation ohne Hierarchie und Konkurrenz durchaus den Zusammenhalt verhindern oder gefaehrden könne. Aus Sicht der Komplexitaetswissenschaft ist es für die Stabilitaet eines Systems unabdingbar, wichtige Regeln für Interaktionen vorzugeben, um die kreativen Moeglichkeiten der Selbstorganisation zu begrenzen, Handlungen aber nicht vorzuschreiben oder an Bedingungen zu knuepfen, die den Korridor innerhalb der Leitplanken übermaeßig einschraenken.

Das System muss dabei so beschaffen sein, dass sich Beziehungen im Prozess der Selbstorganisation auch in noch nicht vorgezeichneten Pfaden entwickeln koennen, dass sie zumindest im statistischen Mittel erfolgreiche Anpassungsprozesse an veraenderte Bedingungen nach sich ziehen und aufrechterhalten.

Ethische Absicherung durch hierarchische Umsetzung der Grundwerte

Die Autoren empfehlen als Leitplanken die Grundwerte, die in den Verfassungen der jeweiligen Laender verankert sind und die Bürgerrechte der UN-Charta. Diese stellen Grundprinzipien der menschlichen Existenz und des Miteinanders dar. Zusammen mit den Grundwerten sei auch die Geltungskraft der regelgebenden und -kontrollierenden Institutionen unabdingbar. Damit kooperative Modelle entstehen und gedeihen koennten, bedürfe es des Vertrauens in die Verlaesslichkeit des Governance-Systems, das sicherstellt und bei Bedarf durchsetzt, dass sich alle Akteure an die Regeln halten und Verstoeße geahndet werden.

In Anbetracht von Krisen in modernen Demokratien wie Migration und Populismus seien systemoffene, auf Selbstorganisation und spontane Kooperation beruhende Muster dynamischer Strukturbildung eine wesentliche und für die Weiterentwicklung von Systemen notwendige Bedingung für eine langfristige Nachhaltigkeitsstabilisierung. Damit seien kreative und innovative Loesungen für die unvermeidbaren Konflikte und Brueche innerhalb und zwischen den globalen Transformationen eher zu erwarten, als wenn nur auf Kooperation im Rahmen von Wertegemeinschaften und auf Hierarchie und Wettbewerb gesetzt würde. Allerdings benoetige eine wirksame Selbstorganisation einen Rahmen mit Leitplanken auf der Basis von grundlegenden Regeln (Menschenrechte) und eine innovationsfoerdernde Regelung des Wettbewerbs.

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Publikation:

Renn, O. and Lucas, K.: Systemic Risk: The Threat to Societal Diversity and Coherence. Risk Analysis, 1 (2021). DOI: 10.1111/risa.13654 https://www.iass-potsdam.de/de/ergebnisse/publikationen/2021/systemic-risk-threat-societal-diversity-and-coherence

Rueckfragen wenden Sie sich bitte an:

Sabine Letz
Presse & Kommunikation
Institut für transformative Nachhaltigkeitsforschung (IASS)
Tel.: +49 (0)331 288 22-479
E-Mail: sabine.letz@iass-potsdam.de


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