[Wien, 28. September 2021] Im Krisenfall telefonieren Frauen deutlich länger und halten sich stärker an Vorgaben als Männer; Männer lassen sich weniger stark in ihrer Mobilität einschränken und kehren schneller zur Normalität zurück als Frauen. Diese nach Klischee klingenden Verhaltensmuster fanden Forscher des Complexity Science Hub Vienna (CSH) in Daten aus dem ersten Corona-Lockdown im Frühjahr 2020 deutlich abgebildet. Für ihre Studie, die nun im Fachjournal Scientific Reports erschienen ist, werteten die Komplexitätsforscher Mobilfunkdaten von 1,2 Millionen in Österreich lebenden Menschen – rund 15 Prozent der Bevölkerung – zwischen Februar und Juni 2020 aus.
Männer und Frauen verhalten sich in Krisensituationen sehr unterschiedlich
„Das Herunterfahren des öffentlichen Lebens im März 2020 war wie ein bevölkerungsweites Live-Experiment“, so CSH-Forscher Tobias Reisch. Der CSH erhielt damals Zugang zu anonymisierten Handydaten eines großen österreichischen Mobilfunkbetreibers, mit denen die Forscher – leicht zeitversetzt – das Mobilitätsverhalten der Menschen beobachten konnten. „Uns hat interessiert, wie weit die Bevölkerung die von der Regierung verhängten Maßnahmen mitträgt“, so Reisch. „Als wir die Daten nach Geschlechtern getrennt auswerteten, waren wir überrascht, wie stark die Verhaltensunterschiede waren.“ (Hinweis: Die Geschlechtszuschreibung folgt den Angaben bei Abschluss des Handyvertrags und wurde aus technischen Gründen auf männlich und weiblich beschränkt.)
Frauen telefonieren länger, Männer verlassen eher das Haus
Die Mobilfunkdaten zeigen, dass die Menschen nach der Verhängung des Lockdowns sprunghaft mehr telefonierten. „Interessanterweise wurde mit weniger Personen gesprochen als sonst – dafür mit diesen wenigen umso länger“, so Reisch.
Telefonate, an denen Frauen beteiligt waren, dauerten im Schnitt deutlich länger, wobei es große Unterschiede gab, je nachdem, wer wen anrief. Anrufe von Frauen bei Frauen dauerten nach Verhängung des Lockdowns am 16. März 2020 um bis zu eineinhalb Mal länger als vor der Krise (+140 Prozent), Anrufe von Männern bei Frauen beinahe doppelt so lang (+97 Prozent). Wenn umgekehrt Frauen Männer anriefen, waren die Gespräche im Durchschnitt um 80 Prozent länger. Am wenigsten verlängerte sich die Gesprächsdauer bei Telefonaten zwischen Männern (+66 Prozent).
„Wir kennen natürlich nicht Inhalt oder Zweck der Telefonate“, so Georg Heiler, Forscher am CSH und der TU Wien und zuständig für die Aufbereitung der Mobilfunkdaten. „Die sozialwissenschaftliche Literatur liefert aber Hinweise – meist aus kleinen Befragungen, Umfragen oder Interviews –, dass Frauen tendenziell aktivere Strategien zur Stressverarbeitung wählen, etwa indem sie mehr mit anderen reden. Unsere Studie würde das bestätigen.“
Die Forscher belegen außerdem, dass vor der Pandemie vorhandene Unterschiede im Mobilitätsverhalten von Männern und Frauen durch den Lockdown massiv verstärkt wurden, wobei Frauen ihre Mobilität deutlich stärker und länger einschränkten als Männer.
Eine Detailauswertung von Mobilfunkdaten, die in einem großen Naherholungsgebiet in Wien und in einem Einkaufszentrum gewonnen wurden, zeigt, dass beide Regionen während des Lockdowns von mehr Männern aufgesucht wurden. Nach Aufhebung der Maßnahmen kehrten diese auch schneller zu ihrem gewohnten Mobilitätsverhalten zurück.
Eine wertvolle Unterstützung der Sozialforschung
„Daten wie diese bilden das Verhalten der Menschen im Hier und Jetzt ab – wir können also zeigen, was ist, ohne dass wir dafür erst tausende Leute aufwendig befragen müssen,“ erklärt CSH-Präsident und Koautor Stefan Thurner. „Einmal mehr zeigt diese Studie, dass wir mit Daten wie hier aus der Mobiltelefonie die Möglichkeit haben, kostengünstig und rasch zu gesamtgesellschaftlichen Befunden und Einschätzungen zu kommen, ohne die Anonymität der Einzelnen zu gefährden.“ Damit erhielten einerseits Sozialforschung und Psychologie quantitative Unterstützung aus der datengetriebenen Forschung – und viel Stoff für weiterführende Untersuchungen. „Andererseits liefern wir hier auch sehr konkrete Informationen für die Politik, die in der akuten Krise zur Planung verwendet werden können, die in eine gezieltere Gesundheitsplanung einfließen oder auch zu Überlegungen führen könnten, wie wir mehr Geschlechtergerechtigkeit in der Gesellschaft erreichen“, so Thurner.
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Tobias Reisch, Georg Heiler, Jan Hurt, Peter Klimek, Allan Hanbury, Stefan Thurner, "Behavioral gender differences are reinforced during the COVID-19 crisis," Scientific Reports 11, Article number: 19241 (2021) https://doi.org/10.1038/s41598-021-97394-1
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About the CSH
The Complexity Science Hub Vienna (CSH) is an independent Austrian research institution. The objective of the Hub is to host, educate, and inspire complex systems scientists who are dedicated to collect, handle, aggregate, and make sense of Big Data in ways that are directly valuable for science and society.
The CSH is an initiative of AIT Austrian Institute of Technology, Central European University, Danube University Krems, Graz University of Technology, International Institute for Applied Systems Analysis (IIASA), Medical University of Vienna, TU Wien, Vienna University of Economics & Business, Institute of Molecular Biology (IMBA), University of Veterinary Medicine Vienna, and WKO.
Journal
Scientific Reports
Method of Research
Data/statistical analysis
Subject of Research
People
Article Title
Behavioral gender differences are reinforced during the COVID-19 crisis
Article Publication Date
28-Sep-2021
COI Statement
none